Tensegrity: Eine neue Sichtweise des Körpers

Tensegrity ist eine Wortschöpfung des visionären Architekten Buckminster Fuller aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. "Tension" und "Integrity" kommen zusammen zu "Tensegrity" -  Spannungsintegrität. Buckminster Fuller baute aufsehenerregende Kuppelstrukturen, der Künstler Kenneth Snelson schuf eindrucksvolle Skulpturen. Tensegrity-Strukturen werden deshalb bewundert, weil ihre teils massiven, starren Streben - mit dünnen Seilen oder Bändern verspannt - fast magisch in der Luft zu schweben scheinen. Die Zugspannung der elastischen Elemente sorgt für Stabilität/Integrität des ganzen Systems. Die starren Elemente, die Druck abbekommen, sind eher Abstandshalter.  

Was hat das mit unserem Körper zu tun?

In Anatomie und Medizin herrscht noch immer eine veraltete Sichtweise vor. Da werden Skelette im Unterricht verwendet, deren Knochen mit Drähten zusammengehalten werden, und die Studierenden lernen, wo Muskeln und Sehnen ansetzen, um diese Knochen zu bewegen. Aus dieser Sicht ist der Körper eine mechanische Konstruktion mit Flaschenzügen und Hebeln. Es sind die knöchernen Strukturen, die den Körper tragen und ihm Stabilität verleihen. Denken Sie an das Wort "Wirbelsäule". Dieses Wort suggeriert, dass alles Gewicht von oben auf den untersten Bauteilen lastet, wie bei einem Stapel Bauklötze oder eben einer Säule aus Stein. Wäre das tatsächlich so, dann hätte die Evolution unseren Körper anders geformt - mit monströsen Füßen als Basis beispielsweise.

Biotensegrity - Körperarchitektur neu betrachtet

Inzwischen wurde das Tensegrity-Prinzip vielerorts in der Natur entdeckt, Wissenschaftler haben es als ein universelles biologisches Modell identifiziert.  Vom Virus bis zum Wirbeltier, selbst in jeder einzelnen Zelle lässt sich das Tensegrity-Prinzip entdecken. Man spricht von "Biotensegrity".  Auch unseren Körper können und sollten wir so betrachten. Faszien und Muskeln gemeinsam bilden ein kontinuierliches 3D-Netzwerk durch den Körper, in dem Kräfte übertragen und verteilt werden - von der Haut in vielen Schichten und Verzweigungen durch den ganzen Körper, von der Oberfläche bis ins Innerste.

 

Sehnen, Bänder, Myofaszien, Faszien unter der Haut genauso wie um Organe usw. sind die Spannungselemente (Gummibänder) unserer Tensegrity-Struktur Körper. In dieses Zugspannungs-Netzwerk sind die Knochen (als relativ starre Elemente) "schwebend" eingebunden. Es hängt von den Verhältnissen der elastischen Elemente ab, wie sich die starren Elemente positionieren und bewegen können. 

 

In diesem Video erklärt Thomas Myers (Autor von Anatomy Trains) sehr anschaulich die Biotensegrity und den Unterschied zu reinen Kompressions-Strukturen. Sehr sehenswert!

Wenn Sie das Video angesehen haben, verstehen Sie wahrscheinlich auch, warum ungesunde Verspannungen an einer Stelle das gesamte System unflexibel machen - starrer und weniger anpassungsfähig. So kann man mit dieser Sichtweise der Körperarchitektur erklären, dass Einschränkungen in Beweglichkeit, Steifheit und Verhärtung von Muskel-Faszien in einem Bereich des Körpers Auswirkungen auf den gesamten Körper haben .... ja müssen!

Die einzigartigen Eigenschaften von Tensegrity-Strukturen

Wenn man eine Tensegrity-Struktur an einer Stelle belastet, verteilt sich die einwirkende Kraft über die gesamte Struktur. Wo entsteht in einer Tensegrity-Struktur unter Belastung ein Schaden? Am schwächsten Punkt im System, was selten der Punkt ist, an dem die Kraft direkt einwirkt.

Wenn unser Körper also eine Tensegrity-Struktur ist, kann die problematische Belastung, die beispielsweise im unteren Rücken Schmerzen verursacht, auch im Fuß oder in der Schulter zu finden sein. Der untere Rücken ist in diesem Beispiel der schwächste Punkt des Systems, der die Störung des Gleichgewichts kompensieren will und das nicht adäquat kann. Als Rolferin®, die den Körper als Tensegrity-Struktur begreift, muss ich also erkennen oder herausfinden, was das ursächliche Muster ist, wo ich eingreifen muss.

Ist der Körper in bestimmten Bereichen verkrampft und eingeengt, zum Beispiel bei der Atmung, kann er die eigentlich mögliche Ausdehnung nicht ausschöpfen, den Raum nicht einnehmen, der ihm eigentlich zur Verfügung steht. Den Raum, in dem der Körper seine volle Ausdrucksfähigkeit entfalten kann, können wir beim Rolfing wieder öffnen.

Eine Klientin sagte zu mir vor einigen Jahren: "Rolfing gibt mir den Raum, der mir von Natur aus zusteht."