Faszien-Dehnung und der Schwamm-effekt

In mehreren Studien wurde inzwischen gezeigt, dass das Dehnen zum Beispiel einer Sehne dazu führt, dass Wasser aus dem Gewebe herausgepresst wird. Forscher konnten diese Wirkung unter anderem mittels Magnetresonanztomografie (MRT) beobachten. Möglicherweise lösen sich durch die Dehnbelastung Bindungen zwischen dem Wasser und den Makromolekülen in der Bindegewebe-Matrix. 

Hierzu hat auch das Team der Fascia Research Group in Ulm ein interessantes Experiment im Reagenzglas durchgeführt. Die Wissenschaftler brachten Faszienstücke auf Spannung und dehnten diese immer wieder. Die Faszien wurden spröder, denn bei jeder Dehnung verloren sie Wasser. Dann gaben die Forscher dem Gewebe eine Erholungspause von etwa einer halben Stunde und erlaubten ihm, sich langsam wieder mit Wasser vollzusaugen. Nach drei Stunden hatten die Faszienstücke sogar mehr Wasser gespeichert als vor dem Versuch!

 

Dieses Experiment, wenn auch im Reagenzglas nur mit einzelnen Stücken von Faszien durchgeführt, zeigt: Dosiertes Dehnen mit ausreichend langen Pausen kann dem Bindegewebe helfen, seine Fähigkeit zur Wasserbindung zu steigern. Sie erinnern sich: Ein Flüssigkeitsaustausch und eine bessere Wasserbindung sorgen für eine Vitalisierung des Fasziengewebes. Das werden die Yoga-Praktizierenden unter Ihnen gerne hören. Und der Schwamm-Effekt könnte auch einen wohltuenden Effekt von manuellen Therapien erklären. Bei Methoden wie dem Rolfing wirkt der Therapeut langsam und dosiert mit speziellen Techniken so auf das Gewebe ein, dass vorübergehend wie aus einem Schwamm Wasser herausgepresst wird. Anschließend haben die Faszien die Möglichkeit, frische Flüssigkeit aus den Kapillaren der Blutgefäße aufzunehmen. 

Studien zeigen: Diese langsame Flüssigkeitsverschiebung sorgt dafür, dass die Fibroblasten ein bestimmtes Enzym produzieren, das überschüssiges Kollagen im verfilzten Bindegewebe abzubauen hilft.

 

Dehnen kann Entzündung und Schmerz lindern.

Natürlich mussten wieder einmal Ratten herhalten, um diese Annahme zu belegen. Es waren die Laborratten der Neurowissenschaftlerin Helene Langevin. Sie forscht seit Jahren an der Harvard Medical School in Boston über die Faszien, vor allem über ihre Rolle bei chronischem Schmerz und die Wirkung alternativer und manueller Therapien auf das Bindegewebe. Parallel zu ihren Studien über Akupunktur interessierte sie die Frage, was es mit den heilenden Effekten des Yoga auf sich hat. Wie war zu erklären, dass es vielen Rückenschmerzpatienten durch Yoga besser geht? 

Langevins Laborratten durften also eine Art Yoga praktizieren. Zuvor wurde ihnen allerdings eine Substanz in die tiefe Lumbalfaszie des Rückens gespritzt, die Entzündungen hervorruft. In der Folge verkrampften sich die Tiere und bewegten sich mühsam – sie hatten offensichtlich Schmerzen. Über einen Zeitraum von zwölf Tagen wurde nun eine Gruppe der Ratten jeden Tag zehn Minuten lang sanft gedehnt. Dazu nahmen die Forscher die Tiere in die Hand und strichen ihnen behutsam über den Rücken. Ergebnis: Diese Tiere bewegten sich bald wieder normal. Untersuchungen zeigten, dass die Entzündungszellen in der Lumbalfaszie deutlich reduziert waren, im Gegensatz zu den Ratten, die nicht gedehnt wurden. Das Dehnen hatte offensichtlich die Freisetzung von antientzündlichen Botenstoffen gefördert und so den Heilungsprozess des Körpers beschleunigt. 

Langevin hat diese Versuche mehrfach wiederholt, auch in einer anderen Variante: Die Ratten wurden vorsichtig am Schwanz genommen und angehoben (was ihnen keinerlei Schmerzen verursachen soll). Interessanterweise fingen die Tiere an, sich mit den Vorderfüßen beispielsweise an einer Tischkante festzuhalten und ihren gesamten Körper in Dehnung zu bringen. Zum Teil taten sie das minutenlang. 

Langevin forscht weiter. Sie interessiert, wie lang eine Dehnung des Bindegewebes genau sein muss, um langfristige positive Effekte zu erzielen, und wie Akupunktur oder andere „mechanische“ Behandlungsmethoden gezielt eingesetzt werden können, um Entzündungen entgegenzuwirken.

 

Der Text auf dieser Seite ist ein Auszug aus Susanne Noll. "Aufrecht und geschmeidig: Mit gesunden Faszien beweglich und schmerzfrei bleiben". Scorpio Verlag. München: 2017.