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Nobelpreis - Wir sind begeistert!

"Welche Überraschung! Mit dem Nobelpreis für Medizin werden dieses Jahr zwei Wissenschaftler ausgezeichnet, die die Wahrnehmung von Berührung und Temperatur beim Menschen erforscht haben. Ihre Erkenntnisse über die entdeckten PIEZO und TRPV Rezeptoren haben in den vergangenen Jahren hunderte Wissenschaftler weltweit dazu bewegt zu erforschen, wie diese Sinneswahrnehmungen zusammenhängen und wie sie die Schmerzregulierung beeinflussen. Es ist sicher, dass dieser Nobelpreis dazu beitragen wird, dass die Erforschung des Berührungssinns, der Propriozeption und des Körperempfindens künftig noch größere Aufmerksamkeit erfahren wird."

 

Mit diesen Worten hat einer der führenden Faszienforscher, Dr. Robert Schleip, auf Instagram auf die Bekanntgabe des diesjährigen Nobelpreises für Medizin reagiert. Er sagt, er habe Gänsehaut bekommen. So ging es auch mir, und so ging es wahrscheinlich allen Rolfern.

 

Robert Schleip hat als Rolfer der ersten Stunde in der zweiten Hälfte seines Lebens noch ein Studium der Humanmedizin absolviert, um die Faszien erforschen zu können - um herauszufinden, wie die Wirksamkeit einer Faszientherapie wie Rolfing sich wissenschaftlich begründen lässt. Robert war jahrelang mein Mentor und hat mich immer wieder mit seiner Leidenschaft für die Forschung angesteckt. Ohne diese Leidenschaft hätte ich die Ausbildung zur Rolferin wahrscheinlich nicht gemacht...

 

 

Ich übersetze im Folgenden zwei Passagen aus der Presseerklärung des Karolinska Instituts zur Preisverleihung:

Wie nehmen wir die Welt mit unseren Sinnen wahr?

"Eines der großen Mysterien in Bezug auf den Menschen ist die Frage, wie wir unsere Umwelt sinnlich wahrnehmen. Die Mechanismen, die unseren Sinnen zugrunde liegen, haben seit tausenden Jahren unsere Neugier geweckt: zum Beispiel, wie unsere Augen Licht erkennen, wie Klangwellen auf unser Innenohr wirken, wie verschiedene chemische Verbindungen mit Rezeptoren in unserer Nase und unserem Mund interagieren und so Geruch und Geschmack generieren. Und wir nehmen die Welt um uns herum auch auf andere Weise wahr. Stellen Sie sich vor, barfuß an einem heißen Sommertag über eine Wiese zu gehen. Sie können die Hitze der Sonne spüren, den zarten Windhauch auf der Haut und die einzelnen Grashalme unter ihren Füßen. Diese Eindrücke von Temperatur, Berührung und Bewegung sind essenziell für unsere Anpassungsfähigkeit an das sich ständig verändernde Umfeld. Alles macht Sinn!"

 

"Die bahnbrechenden Entdeckungen der TRPV1, TRPM8 and PIEZO Rezeptoren der diesjährigen Nobelpreisträger haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Hitze, Kälte und mechanische Kräfte Nervenimpulse auslösen, die es uns ermöglichen, die Welt um uns wahrzunehmen und uns an sie anzupassen. Die TRP Rezeptoren sind wichtig für unsere Fähigkeit, Temperatur wahrzunehmen. Der PIEZO Rezeptor stattet uns mit dem Berührungssinn aus und der Fähigkeit, die Position und Bewegung unseres Körpers wahrzunehmen. Die Erkenntnisse der diesjährigen Nobelpreisträger haben Forschungen mit dem Ziel angestoßen, die Funktionen dieser Rezeptoren in einer Vielzahl physiologischer Prozesse zu erhellen. Das Wissen daraus kann genutzt werden, Behandlungen einer großen Bandbreite von Beschwerden zu entwickeln, darunter chronische Schmerzzustände."

 

Quelle: Presseerklärung Karolinska Institut

 

Na denn, ein Hoch auf die Faszien!

 

Manch einer wird sich fragen, was denn so bahnbrechendes an dieser Forschung ist? Schließlich sind unsere Wahrnehmungen mit den Sinnen doch selbstverständlich? Wie essenziell diese Sinne sind, wird uns erst dann bewusst, wenn sie nicht mehr so selbstverständlich funktionieren. Wenn das Körperempfinden gestört ist, der Geruchssinn abhanden kommt, der Gleichgewichts-Sinn. Aber auch Schmerzzustände können ein Hinweis darauf sein, dass Körperwahrnehmung aus dem Gleichgewicht geraten ist. Im Alltag merken wir von diesem großartigen Sinnessystem wenig, denn der Großteil des Informationsaustauschs läuft unbewusst ab. Anders wäre die Flut von Informationen, die die Rezeptoren liefern, gar nicht zu bewältigen.

 

Wenn Sie sich nun fragen, was das alles mit Rolfing und Faszientherapie zu tun hat, so ist die einfache Antwort: In den Faszien ist der überwiegende Teil der Rezeptoren in unserem Körper beheimatet. Mit ihnen arbeiten wir bei jeder Rolfing-Sitzung, vor allem mit den Rezeptoren, die auf Berührung reagieren und die für die Propriozeption verantwortlich sind. Mechanorezeptoren übersetzen mechanische Kräfte (also auch die Kräfte, die bei Druck und Zugbelastungen ausgeübt werden) in elektrische Signale und bewerkstelligen ein körperweites Kommunikationsnetzwerk. Die Geschwindigkeit der Signalübertragung übertrifft das des regulären Nervensystems um ein vielfaches. Dieser Komplex ist noch wenig erforscht, leider.

 

Propriozeption

 

Wenn wir eine Tasse vom Tisch anheben wollen und den Arm nach vorn strecken, registriert unser Gehirn genau, wo sich der Arm im Raum und in Relation zum übrigen Körper befindet, selbst mit geschlossenen Augen. Wenn Sie mit geschlossenen Augen den linken Ringfinger zielsicher zur Nasenspitze führen, so bewerkstelligt das die Propriozeption. Wie wir sitzen oder stehen, in welcher Position unser linker Fuß gerade steht, welche Haltung wir haben, das alles nehmen wir mit diesem unglaublich aufmerksamen Sinnessystem wahr. Die Propriozeption umfasst unsere Wahrnehmung von Lage, Haltung und Bewegung unseres Körper im Raum.

 

Möglich machen das vor allem unzählige sensorische Rezeptoren in den Faszien - direkt unter unserer Haut, in Muskelhüllen, in Gelenkkapseln, Sehnen und Bändern. Sie arbeiten mit dem Gleichgewichtssinn im Innenohr zusammen. Die so genannten Propriozeptoren registrieren auch minimalste Bewegungen. Bei jeder Veränderung liefern sie Informationen über die Bewegungsrichtung, die Stellung der Gelenke und des Kopfes an das Gehirn und seine Körperkarten. Diese Karten steuern dann wiederum Bewegungen. Teilweise werden die propriozeptiven Informationen auch direkt im Rückenmark ausgewertet und mit Reflexen beantwortet. 

Wenn diese so selbstverständliche Kommunikation in unserem Körper nicht mehr normal funktioniert, haben wir erhebliche Probleme.

Das zeigt auf eindrückliche Weise das Beispiel Ian Waterman. Dieser Mann hat seine Propriozeption verloren, in Folge einer seltenen Virus-Erkrankung. Es war eine Zeit  hoffnungsloser ärztlicher Prognosen. Waterman gab ich nicht auf und fing an, sich mühevoll Mechanismen erarbeiten, um "einfachste" Bewegungen auszuführen.

Ich habe hier keine Doku verlinkt, sondern ein kurzes Video eines Performance Künstlers. Wie ich finde, macht es uns auf eindringliche Weise spürbar, was der Verlust von Propriozeption bedeutet.

Klicken Sie bitte auf das Foto.

(Auch wenn die Passage mit der Krankenpflegerin am Ende irritiert, man kann es einem alten Mann vielleicht verzeihen? In jedem Fall fand ich, dass das Video uns im ersten Teil gut spüren lässt, was es bedeutet, keine  Propriozeption mehr zu haben)

 

Interozeption

 

Unter Interozeption wiederum versteht man die Fähigkeit, tief ins Innere des Körpers hinein zu spüren. Wie geht es uns innen drin? Die Interozeptoren vermitteln uns Informationen über unser Wohlbefinden, die Qualität unserer Lebendigkeit. Ganz pragmatisch registrieren sie, wenn wir Hunger oder Durst haben, wenn unsere Blase voll ist etc. Diese Innenwahrnehmung ermöglicht es, unserem momentanen physiologischen Zustand Aufmerksamkeit zu schenken und motiviert dazu, uns darum zu kümmern. Aber Interozeption beschränkt sich nicht auf innere Organe und sie wird uns auch oft nicht bewusst.

 

Strecken Sie doch mal Ihre Arm zur Seite aus. Die Propriozeption sagt Ihnen, dass und wie Sie die Arme im Raum ausgestreckt halten. Wenn Sie allerdings mehrere Minuten in dieser Position bleiben, wird Ihnen bewusst: "Oh, jetzt wird's aber unangenehm, der Arm fühlt sich verdammt schwer an und die Muskeln beginnen zu brennen. Wann kann ich ihn endlich wieder herunter nehmen?" Wenn es dann wirklich unangenehm wird, steigen vielleicht Emotionen hoch, Sie können eine Veränderung Ihrer Atmung wahrnehmen. Das ist Interozeption.

 

Die Forschung geht davon aus, dass sich die Anzahl der interozeptiven Rezeptoren in den Faszien die der propriozeptiven Rezeptoren um das siebenfache übersteigt. Interessanterweise finden sich besonders viele Interozeptoren in den Faszien unter der Haut. Das erklärt nun auch zumindest im Ansatz wissenschaftlich, wie Körperarbeit, die mit Embodiment arbeitet - wie Rolfing und Feldenkrais - mehr Wohlbefinden im eigenen Körper, mehr Achtsamkeit und Feingespür bringen.

Nach einer guten Rolfing-Sitzung fühlen wir uns mehr in Kontakt mit dem eigenen Körper und zuhause in ihm, denn Interozeption und Propriozeption wurden gleichermaßen angesprochen.